Dem Himmel zu nah 7

Regieanmerkung

Am frühen Nachmittag eines wunderschönen Herbsttages springt Marius, mein 39-jähriger Adoptivbruder, über die Berner Kornhausbrücke in den Tod. Der Tod von Marius wirft mich aus der Bahn. Die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse – der tiefe Schock, aber auch unsere fröhlichen Kinder, für die der Tod noch keine Bedeutung hat; und die schmerzliche Erinnerung an damals, als sich meine 19-jährige Schwester das Leben genommen hatte – bringen mich aus dem Gleichgewicht. Zum zweiten Mal verliere ich ein liebes Familienmitglied auf diese Art. Die Geschichten weisen viele und beunruhigende Parallelen auf. Beide haben sich während eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik umgebracht. Sie hatten eine ähnliche Krankheitsdiagnose und in beiden Fällen habe ich während Jahren an eine positive Entwicklung dieser Lebenswege geglaubt und dafür „gekämpft“. Nun werde ich ein weiteres Mal gezwungen zu akzeptieren, dass ich meinen Allerliebsten zwar zur Seite stehen kann, es mir aber dennoch nur zum Teil gelingt, sie in ihrer Not und ihrer Einsamkeit zu begleiten, zu unterstützen. Erschüttert stehen meine Mutter, mein Vater, mein jüngster Bruder und ich vor der unausweichlichen Aufgabe, nun auch Marius‘ Entscheid zu akzeptieren, zu respektieren. Nur – was heisst das, einen solchen Entscheid respektieren?

Je länger ich versuchte, die Geschehnisse zu akzeptieren, sie anzunehmen und einfach stehen zu lassen, desto mehr geriet ich in einen Konflikt: Die Idee, den Entscheid meiner Geschwister – der mich nicht nur erschütterte sondern auch verletzte und wütend machte – zu respektieren, liess sich nur schwerlich mit meiner positiven Haltung dem Leben gegenüber in Einklang bringen. Endlose Fragen trieben mich um: War das wirklich seine Entscheidung, ihre Entscheidung? Wie kommt es überhaupt soweit, dass Menschen im Leben keinen Sinn mehr sehen? Auf den ersten Blick waren doch beide gut eingebettet in eine glückliche Familie, fürsorgliche Eltern, es fehlte weder an Verständnis noch an Liebe. Doch ab wann rieselte der Sand ins Familiengetriebe? Warum waren meine Geschwister so anders als ich? Weniger stark? Sensibler? Unsicherer? Und schliesslich die Frage: Können wir überhaupt WIRKLICH Einfluss nehmen auf das Leben unserer Nächsten?

Meine Herkunftsfamilie, mein Lebenspartner und unsere unbeschwerten Kinder, aber auch professionelle Hilfe gaben mir wieder Halt und Boden, meinen Aufgaben im Alltag nachzugehen. Doch der Wiedereinstieg in meine berufliche Tätigkeit fiel mir schwer. Bis ich merkte, dass ich dieser schicksalshaften Geschichte und meiner gefühlten Ohnmacht diesbezüglich mit einem Film begegnen «muss»! Denn worüber sollte ich als Filmautorin berichten, wenn nicht über Dinge, die mich selber existentiell berühren und bewegen?

Während fünf Jahren arbeitete ich nun an diesem Film. Diese Arbeit war oft sehr intensiv, manchmal schwierig und beunruhigend, auf der anderen Seite aber auch sehr bereichernd und auf jeden Fall erkenntnisreich. Ich war als Angehörige Teil der Ereignisse, stand selber mitten in einem Prozess und zugleich reflektierte ich diesen Prozess als Autorin. Damit mir dieser Spagat gelingen konnte, arbeitete ich intensiv mit Aussenstehenden zusammen, was mir einerseits immer wieder den nötigen Abstand ermöglichte und mir andererseits in meiner persönlichen Verarbeitung weiterhalf.

Natürlich war das Ganze kein Spaziergang und es hat mir manch schlaflose Nacht beschert. Doch heute bin ich glücklich, wenn ich erste Reaktionen von Zuschauerinnen und Zuschauern miterleben darf. Ich stelle fest, dass ich mein Ziel erreicht habe: Mit meinem Film Menschen zu berühren, mit einer Geschichte, die exemplarischen Charakter hat und doch universell ist. Ich glaube, es ist mir gelungen eine traurige Geschichte zu erzählen, die aber nicht hoffnungslos stimmt - und dadurch auch meinen verstorbenen Geschwistern die Ehre zu erweisen. Ich stelle dem Tod und meiner Ohnmacht durch meinen Film das Leben und meine Lebensfreude entgegen. In der Hoffnung nicht nur bei mir, sondern auch beim Publikum – wenn auch im Kleinen – etwas zu bewegen...

Annina Furrer